Sinn im Unsinn – Suche nach der Wurzel von Problemen in der Zusammenarbeit

– Eine Einführung

Wenn in Unternehmen Schwierigkeiten entstehen, unter denen die Zusammenarbeit leidet, ist die meist reflexartige Reaktion darauf, dass nach einem Schuldigen gesucht wird. Dieses Fingerpointing führt in der Regel zu noch mehr Frust, Zerwürfnissen und häufig lang andauernden Fehden unter Mitarbeitern oder Teams.

Irgendwann geht dann jemand in die innere Kündigung, wird versetzt oder im schlimmsten Fall entlassen. Oft betrifft dies die Führungskräfte, denen dann die Schuld in die Schuhe geschoben wird. Die werden dann durch neue Personen ersetzt und schnell stellt sich heraus, dass -nach einer kurzen Phase des Willens zur Veränderung- alles wieder so ist, wie vorher. Die unerwünschte Kultur des Teams oder des Unternehmens, derentwegen der Vorgänger ja gehen musste, schüttelt sich mal kurz, wirft den Immunapparat an und spuckt die Veränderungsinitiative einfach wieder aus. Die neue Führungskraft findet sich im selben Verhaltensmuster wieder wie ihr Vorgänger… 

Was ist da passiert? 

Können und Wirkung

Die Kultur ist nicht entscheidbar – Menschen können sie nicht „machen“, auch Führungskräfte nicht. Appelle an die Kultur verhallen, solange die Strukturen der Organisation, nicht so verändert werden, dass sie sich als „Schatten“ der Verhältnisse im Unternehmen daraus entwickeln. 

„Sie ist dennoch entscheidend und lenkt das Verhalten der Organisationsmitglieder mit eiserner Hand. Dabei ist sie mit der Grammatik einer Sprache zu vergleichen, die Kinder einfach lernen, ohne die Regeln benennen zu können. So lernen auch neue Mitarbeiter*innen innerhalb der Probezeit, welche kulturellen Regeln zu befolgen sind und auch, ob das für sie passt.“ schreibt Christina Grubendorfer in ihrem Artikel STRUKTUR STATT MINDSET – WAS EIN SYSTEMISCHER BLICK AUF ORGANISATIONEN FÜR DIE HR ARBEIT BEDEUTET

Das Phänomen, dass beklagte Missstände auch bei regelmäßiger Umorganisation im Sinne einer dynamischeren Zusammenarbeit eine ungemeine Stabilität beweisen, hat etwas mit den Unternehmenskulturen zu tun, die sich autopoietisch (aus sich selbst heraus) im Zeitalter der tayloristisch strukturierten Arbeitsweise gebildet haben und auch heute noch wegen der immer noch vermittelten Managementlehre aus dem vorigen Jahrhundert bilden. Die „Immunapparate“ dieser Kulturen, die ja jegliche Veränderung, jede Überraschung oder alle Fehler als Störung identifizieren und so schnell wie möglich wieder neutralisieren, „einnorden“ oder eliminieren, sind halt nicht so leicht zu überlisten. Appelle reichen da nicht und auch „Change-Management“, so wie es heute meist verstanden wird, ist in der Regel wirkungslos. 

Veränderungsinnovatoren können nur wirksam werden, wenn sie von der formalen Macht gegen diesen Immunapparat geschützt werden. Meist sehen die Inhaber der formalen Macht aber diese Notwendigkeit in ihrer vollen Tragweite nicht und agieren halbherzig, knicken ein oder delegieren einfach weg. Denn es ist anstrengend, diese Schutzfunktion gegen den Immunapparat der eigenen Organisation durchzuhalten. Und das hat Christina Grubendorfer exzellent als „eiserne Hand“ beschrieben. 

Die weit verbreitete Auffassung, Führungskräfte seien „Kulturschaffende“, also dafür verantwortlich, dass sich die Unternehmenskultur in eine gewollte Richtung entwickelt, blendet in der Regel aus, dass diese nicht direkt beeinflussbar ist. Werteappelle, verbunden mit entsprechenden Entwicklungsprogrammen und -workshops sind ein Beispiel für diesen Denkansatz. 

Es ist jedoch notwendig, die Begriffe Kultur und Struktur/Organisation auseinanderzuhalten, um zu verhindern, dass an der falschen Stelle interveniert wird. Kultur ist der „Schatten“ der Verhältnisse im Unternehmen. Und man versuche mal, an seinem Schatten etwas zu verändern, ohne sich zu bewegen… 

Führungskräfte sind „Strukturschaffende“ und haben damit natürlich einen Einfluss auf die Kultur, nur eben keinen direkten. 

Darum macht es Sinn, sich nur auf die entscheidbaren Entscheidungsprämissen, wie Praktiken im Unternehmen, Regeln, Verfahren, oder Prozesse zu fokussieren und möglichst viele von diesen, die stören, schaden oder behindern, wegzulassen und diejenigen, die bleiben, schlank und strikt auf die Art und Form der Wertschöpfung auszurichten. 

An unentscheidbaren Entscheidungsprämissen, allen voran die Kultur, aber auch Werte, Mindset oder Haltung sollte man sich nicht vergreifen. Im besten Falle bewirkt das nichts – schlechtenfalls schadet es, weil z.B. Zynismus bei den Mitarbeitenden entsteht… 

Wenn unerwünschte, weil störende und meist auch der Wertschöpfung schadende Verhaltensweisen der Mitarbeiter auftreten, wird in den meisten Unternehmen versucht, an Haltung und Mindset der Mitarbeiter zu operieren, um Veränderungen herbeizuführen. So wird z.B. in den seltensten Fällen die Ursache für eine entstandene oder etablierte Misstrauenskultur in der Organisation gesucht und mittels struktureller Lösungen bekämpft. 

Es ist eine Tatsache, dass eine Misstrauenskultur strukturell bedingt ist und nicht, weil es da „fiese Charaktere“ gibt, die kein Vertrauen aufbauen wollen oder können. Hier -wie auch in vielen anderen Fällen von Verhaltensproblemen der Menschen in Organisationen- ist es richtig, nach dem „Sinn im Unsinn“ zu suchen, weil das Verhalten immer eine Funktion hat, die den Erhalt der Kommunikation, die sich entwickelt hat und anschlussfähig ist, ermöglicht. Ob es für die Wertschöpfung, für das Betriebsklima oder etwas anderes, was wünschenswert oder für das Funktionieren des Unternehmens als Problemlöser am Markt notwendig ist, steht auf einem anderen Blatt. 

Und weil Misstrauenskultur immer strukturell bedingt ist (außer wenn sich Teammitglieder in einem anderen sozialen System außerhalb des Unternehmens nicht leiden können, weil einer dem anderen beim Fußball ans Schienbein gehauen oder bei der freiwilligen Feuerwehr mit dem Schlauch nassgespritzt hat o.ä.), lässt es sich auch nicht durch das „Abholen“ von Menschen beseitigen. Gerhard Wohland schreibt dazu in seinem Buch Denkwerkzeuge der Höchstleister„Solange Schuldige (oder Helden) gebraucht werden, um eine Situation plausibel zu erklären, ist sie noch nicht richtig verstanden.“ Und erweitert damit das Betrachtungsfeld auch auf die positive Seite: Auch die Zuschreibung von Erfolgen des Unternehmens an einzelne Personen ist eine Fehlannahme! 

Um das besser zu versehen, ist ein grundlegender und im ersten Moment sicher kontraintuitiver Perspektivwechsel auf der Basis der Systemtheorie wichtig: Menschen (Führungskräfte gehören auch dazu) sind nur Umwelt des Systems. Wie die Spieler eines Spiels. Wenn man z.B. ein Brettspiel kauft, ist alles dabei: Würfel, Spielfiguren, das Spielbrett – nur nicht die Spieler. Die Spieler nehmen das Spiel in Gebrauch und unterwerfen sich dessen Regeln. Ebenso nehmen die Mitarbeitenden die Unternehmenskultur in Gebrauch mit all ihren Gewohnheiten, Ritualen, Prozessen und vor allem Erwartungen. Jeder Mitarbeitende ist sozusagen ein „Erwartungsbündel“ der Organisation. Und entsprechend den Erwartungen der Kultur des Unternehmens wird sich jeder (nach seinen individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten) verhalten. Aber selten gegen das System. Ob das wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. Darum ist es für das Erreichen des Erwünschten so wichtig, die Vernunft in dem vermeintlichen Fehlverhalten zu suchen – also: Warum verhalten sich Mitarbeitende so unsinnig – wo liegt die Ursache im System… 

Diese Brettspiel-Analogie war kürzlich innerhalb einer schriftlichen Debatte die Basis für den Widerspruch einer systemischen Beraterin mit personenfokussierter Sichtweise zu meiner Annahme, dass Kultur eben nicht von den Führungskräften geschaffen wird. Sie schrieb mir: „Jetzt kommt es aber genau auf die Spieler an. Wird um jeden Zug diskutiert? Kämpft ein Spieler verbissen um den Gewinn? Können die beteiligten Spieler das gemeinsame Erleben genießen? Wie gut beherrschen die jeweiligen Spieler die Intention des Spiels? Spielen alle Spieler fair oder mogelt jemand? 

All dies wird Auswirkung auf das Spiel selbst haben. Und das findet auf der Beziehungsebene statt. Und hat Auswirkungen auf die Befindlichkeit der Akteure. Und daraus entsteht wieder eine Verhaltenskette.“ 

Auf diese gestellten Fragen bin ich im Einzelnen wie folgt eingegangen: 

 

1. „Wird um jeden Zug diskutiert?“ – hoffentlich nicht, denn dafür gibt es Regeln. Alles, was kausal und bewährt ist und sich in absehbarer Zeit nicht ändert, wird geregelt und jeder hat sich daran zu halten. Basta! Wenn sich allerdings in der Umwelt etwas ändert („heute spielt man das aber anders“), dann sind Diskussionen nicht das Schlechteste, um mit der neuen Situation klarzukommen. 

 

2. „Kämpft ein Spieler verbissen um den Gewinn?“ – Jaaa!!! Genau das ist doch der Sinn des Spiels – GEWINNEN! Und natürlich ist es in einem harten Marktumfeld mit viel Konkurrenz sinnvoll, um den Gewinn zu kämpfen! Sonst gewinnt der Wettbewerber. Stelle Dir mal die Langweiligkeit eines Spiels vor, wenn derjenige, der vor allen andern liegt, auf einmal sagt: „Ach nein, liebe MitspielerIn, Du tust mir so leid – ich überlasse Dir den Sieg.“ Ich ahne selbstverständlich, dass Du hier vor allem den internen Wettbewerb im Unternehmen meinst. Das ist eine andere Baustelle, die selbstverständlich toxisch ist: Interne Referenzen, wie individuelle Boni oder Zielvereinbarungen erzeugen diesen Wettbewerb unter Kollegen und lenken von der Wertschöpfung ab. 

 

3. „Können die beteiligten Spieler das gemeinsame Erleben genießen?“ – nur, wenn das Spiel Sinn macht, also wenn das Gesamtergebnis für alle einen Mehrwert ergibt. Das kann sogar sein, wenn gemogelt wird. Und in den meisten Unternehmen wird gemogelt – nicht gegen eigene KollegInnen, sondern gegen das SYSTEM! Und das macht für die Mitarbeitenden Sinn: Das Unterlaufen der Regelhandbücher im Sinne des Kunden – wer kennt das nicht? 

 

4. „Wie gut beherrschen die jeweiligen Spieler die Intention des Spiels?“ – nur hier macht das „Aufschlauen“ der Mitarbeitenden Sinn. Und zwar vorzugsweise durch unlimitiertes Zurverfügungstellen von Wissen des Unternehmens und Hinzufügen von externem Wissen. Eine Limitierung (Zugangsbeschränkungen zur Datenbank, nur Teilinformationen, weil es den Mitarbeiter nichts angeht, wie es um das Unternehmen steht) macht keinen Sinn. 

 

5. „Spielen alle Spieler fair oder mogelt jemand?“ – wenn es für Spieler Sinn macht, wird tendenziell keiner innerhalb des Systems mogeln. Wenn doch, fliegt er raus! Wann macht Mogeln für Spieler/Mitarbeitende Sinn? Wenn es individuelle Anreize gibt. Die zu vermeiden, sollte Fokus sein, nicht die Spieler moralisch zu bekehren und mit „tropfendem Zahn“ vor dem Anreiz sitzen zu lassen. 

 

Natürlich hat das alles Auswirkungen auf den Verlauf des Spiels – das ist so in komplexen, dynamischen und volatilen Phänomenen und mit kontigentem Ausgang erst recht. Aber es findet eben nicht primär auf der Beziehungsebene statt. Das ist der Trugschluss, dem tendenziell die personenfokussierten Herangehensweisen an Probleme in der heutigen komplexen Wirtschaft unterliegen. 

Auswirkungen auf die Befindlichkeit der Akteure hat das natürlich – hier ist aber zu realisieren, dass es nicht die Beziehungsebene ist, die primär auf diese wirkt, sondern die Systembedingungen. Die Beziehungsebene nimmt den sekundären Rang ein und wirkt dort ebenfalls relevant. 

Die Verhaltenskette entsteht also nicht in der Befindlichkeit des Einzelnen, sondern in der systemrelevanten Notwendigkeit. Selbst, wenn das als „Sinn im Unsinn“ lokalisiert werden muss… 

Gemeinsam unternehmerisch denken.

Bei Presse- und Vortragsanfragen schreiben Sie mir gerne eine Mail. Ich melde mich zeitnah bei Ihnen zurück.

 

Ralf Haase

Organisationsdesigner | Netzwerker | Future Leadership Evangelist