Recruiting – Fachwissen versus Menschenkenntnis

Eine erklärende Einführung

– Eine Einführung

Nahezu täglich finde ich Artikel, Ratgeber, Leitfäden, Hinweise auf Bücher und Veranstaltungen, neue Weisheiten und Erkenntnisse zum Thema Recruiting. Eines der wesentlichen Themen in der Unternehmensentwicklung wie im HR Management ist: „Wie kann ich 100% sicher sein, dass ich den richtigen Mitarbeiter (m/w/d – auch für alle künftigen Bezeichnungen) für die vakante Position einstelle?“

Worauf es für Recruiter ankommt 

Über die Autorin 

Fachwissen für Recruiter

Egal ob „Old Work“ oder „New Work“: Die hohe Kunst des Recruiting besteht darin, die Persönlichkeit und die Verhaltensweisen eines Bewerbers auf die Passgenauigkeit oder auch als sinnvolle Ergänzung zum Unternehmen zu erkennen. Das Fachwissen ist leicht abgefragt und durchleuchtet. Aber wer ist der Bewerber tatsächlich? Wie tickt er? Wie stressresistent ist er, und fügt er sich in das bestehende Team ein. Ist er persönlich ein Mehrwert oder eher ein Störfaktor.

Offensichtlich soll das Risiko einen Fehlgriff zu tätigen auf ein Minimum reduziert werden. Verständlich, denn zum einen ist die Ressource Mitarbeiter derzeit eher rar. Zum anderen ist im Zeitalter von social media der Frust über Fehlbesetzungen schnell kommuniziert und die schlechte Note in Portalen wie kununu kaum korrigierbar.

So werden Fragelisten und Handbücher zusammengestellt, mit denen der Unternehmensvertreter während des Bewerbungsgesprächs zielsicher die gewünschten Eigenschaften des Kandidaten anhand von Antworten auf zuvor festgelegte Fragen erkennen kann. Die Körpersprache wird ebenso analysiert und interpretiert wie die Augenbewegungen während des Gesprächs und die Kopfhaltung. Workshops für junge Recruiter werden in unendlicher Vielzahl und Varianz angeboten. An der perfekten Methodik zur Auswahl des Kandidaten, der sich perfekt in das Profil einpasst, wird geschraubt und gebastelt. Mal wird es Assessment Center, mal Auswahlverfahren verbunden mit Candidates Experience oder Bewerbertag genannt, auch gerne „wir würden gerne eine lockeres Gespräch mit dir führen“ oder Scrum Interviews. Die Titel der Gespräche zwischen Unternehmensvertretern und Bewerbern sind bunt – die Auswahlmethoden überall nachlesbar. Es wird versucht möglichst viel zu standardisieren, nachweisbar zu machen, und das am liebsten über alle Abteilungen und ggf. auch Länder hinweg. Früher war es die „eierlegende Wollmichsau fliegende Ausführung“, die gesucht wurde. Heute scheint mir der Trend mehr nach „one size fits all“ zu gehen. Auch wenn das Drumherum der Arbeitswelt möglichst sexy gestaltet wird – der neue Mitarbeiter soll in das eine Schema passen, das der Arbeitgeber für alle Einstellungen entwickelt hat.

Schauspielunterricht für Bewerber

Mir scheint aber, dass eines vergessen wird: alle Methoden, Workshops und niedergeschriebene Hinweise sind mehr oder weniger öffentlich zugänglich. Das bedeutet: nicht nur Recruiter lesen und erfahren, wie sie vorgehen sollen. Auch die Bewerber selbst erhalten über diese Instrumente die klare Anleitung, wie sie sich in Interviews, Vorstellungsgesprächen oder wie immer das Verfahren genannt wird, an dem sie teilnehmen sollen, verhalten sollten, wenn sie den Job bekommen wollten. Der belesene Bewerber hat ein perfektes Skript zur Hand, mit dem er das Abarbeiten von Fragelisten und Auswerten nach vorgebenen Schemata durchblickt und die jeweils gewünschten Antworten oder Verhaltensweisen zeigen kann.

Als Beispiel sei die klassische Fragen genannt: „Wie verbringen Sie Ihre Freizeit?“ Selbstverständlich gibt die Antwort Hinweise auf Teamfähigkeit, Lernbereitschaft, eine gelungene Kombination von Unter- oder Einordnung oder die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und zu führen. Als Antwort passt der Fußballtrainer für die 6-jährigen genauso wie Mitglied bei der freiwilligen Feuerwehr zu sein, sich mit den Freunden zu Diskussionsrunden zu treffen oder regelmäßig den Jakobsweg zu gehen. Jeder weiß, dass er besser nicht antwortet, dass er die Zeit gerne mit einem Buch zuhause verbringt oder am PC mit Computerspielen abhängt. Aber hat schon mal jemand nachgeprüft, wie intensiv die Freizeitaktivitäten ausgeübt werden? Man kann auch Aushilfstrainer für einen Tag gewesen sein, Jakobswege gibt es mittlerweile sehr viele, und als Mitglied der freiwilligen Feuerwehr ist man nicht unbedingt aktiv, sondern hat nur einmal den Dauerauftrag für die Jahresmitgliedschaft ausgefüllt.  

Natürlich bedarf es etwas Übung, dem Recruiter das perfekte Schauspiel zu bieten, das am Ende zum Erfolg führt, aber auch James Bond und Superman haben mal angefangen. Ich habe in meinem Angestelltendasein 2 Assessment Center absolvieren müssen. Das erste habe ich unvorbereitet absolviert und bin durchgefallen. Dann habe ich wochenlang Ratgeber und Leitfäden studiert, Körperhaltungen und Reaktionen geübt und habe das 2. AC mit Bravour bestanden. Dass es keine gute Idee ist, sich zu verstellen, ist ein ganz anderes Thema – aber ich war erst mal drin im Job.

Und nun?

Will ich die Sinnhaftigkeit und Alltagstauglichkeit von Leitfäden, diagnostischen Verfahren, psychologischen Methoden, Farbtests, usw. abstreiten? Empfehle ich auf diese komplett zu verzichten? Halte ich sie für falsche oder überflüssige Instrumente?

Nein, nicht unbedingt. Ich halte ein breites theoretisches Fachwissen über die Interpretation der menschlichen Verhaltensweisen und der möglichen Persönlichkeitsausprägungen auf jeden Fall für sinnvoll. Wissen hat noch nie geschadet. Ich persönlich halte aber überhaupt nichts davon, theoretisches Wissen – egal in welcher Tiefe und Breite – zu erwerben und dann zu meinen, man könnte tatsächlich fundiert und zielsicher erkennen, wer der richtige Mitarbeiter für welches Team ist.  Das Abarbeiten von Fragelisten oder die Auswertung von Kreuzen auf Fragebögen kann ein Instrument sein, aber aus meiner Sicht nicht das Entscheidende. Es wird weder dem Menschen mit seiner schillernden Persönlichkeit noch der Vielfalt der Unternehmenskulturen gerecht. Denn jedes Unternehmen hat seine eigenen Kulturen. Ja – Plural, denn auch innerhalb eines Unternehmens ändert sich die Kultur von Bereich zu Bereich.

Als Global Chief HR Advisor eines internationalen Konzerns konnte ich selbst die Erfahrung machen, wie unterschiedlich die Strukturen, das Denken und damit die Kultur nicht nur aus globaler Sicht, sondern auch innerhalb einer Landesgesellschaft sein können. Was für das lokale Investment Banking passte, versagte bei Informatikern und erst recht bei den Baufinanzierern. Als Beraterin baute ich für einen Konzern eines europäischen Nachbarlands deren deutsche Tochtergesellschaft auf. Inhalte und Ablauf des Auswahlverfahrens wurden von HR der Muttergesellschaft vorgegeben – und 100% aller deutschen Kandidaten fielen durch, obwohl sie nach den Bewerbungsunterlagen und den Einzelgesprächen die richtigen Mitarbeiter gewesen wären.

Auch im Zeitalter von New Work, Digitalisierung, Agilität und Scrum gilt: Wer keine Maschine für einen Arbeitsplatz benötigt, sondern einen denkenden Menschen einstellen möchte, einen der fit im Kopf und mit hoher Motivation tätig ist, sollte die Leitfäden und Fragelisten zur Seite legen. Besser ist es die DNA seines internen oder externen Kunden zu verstehen und sich dann auf die eigene Berufs- und Lebenserfahrung, Menschenkenntnis, das Verarbeiten individueller Gesprächseindrücke und das berühmte Bauchgefühl zu verlassen.

Wenn der Bewerber/Kandidat/künftige Mitarbeiter die Grundvoraussetzungen für die vakante Stelle erfüllt, und die Führungskraft ihn sympathisch – reines Bauchgefühl/erster Eindruck – findet, bringt sie ihm alles bei und wird ihn zu dem richtigen Mitarbeiter entwickeln, egal was irgendwelche Testverfahren ergeben haben. Das Beobachten des Gesprächspartners, das Hinterfragen und Einordnen von Antworten, das Formen eines Gesamtbildes aus einzelnen Antworten und besonders die Fähigkeit, im Interview Erlebtes mit im Leben Erfahrenem abzugleichen, ist der Schlüssel zum Erfolg.

Janetta Cordier (cordier-personalstrategien.de) ist Kooperationspartnerin für die Beratung unserer Kunden zu personalstrategischen Themen. Sie lebt in Frankfurt am Main und vor den Toren Berlins. Als HR Executive Beraterin begleitet sie Unternehmensgründer und -entwickler sowie Führungskräfte in deren strategischen und operativen Personalthemen.

Learnings

W

Das Abarbeiten von Fragelisten oder die Auswertung von Kreuzen auf Fragebögen sollte nicht das entscheidende Instrument darstellen.

W

Man sollte sich Verständnis über die DNA von internen und externen Kunden verschaffen.

Gemeinsam unternehmerisch denken.

Bei Presse- und Vortragsanfragen schreiben Sie mir gerne eine Mail. Ich melde mich zeitnah bei Ihnen zurück.

 

Ralf Haase

Organisationsdesigner | Netzwerker | Future Leadership Evangelist